32-faches Risiko - fragwürdig? (Allgemeines)

Michael27 @, Sonntag, 10.04.2022, 10:57 (vor 719 Tagen) @ Boggy

Ich versuche mal, Klarheit zu schaffen.

Auch ich habe mich am Anfang schwer getan mit der Interpretation. Ein Problem ist, dass grundsätzlich einige Wissenschafts-Journalisten und viele allgemeine Journalisten entweder nicht verstehen, was gemeint ist oder durch schlampige Formulierungen etwas Anderes suggerieren als in der jeweiligen Studie festgestellt, bzw. behauptet wird.

Das ist auch bei dieser Studie der Fall. Es führt also kein Weg daran vorbei, die Studie im Original zu lesen - oder ggfs. sogar die aus den Daten der Studie im Text der Studie abgeleiteten Schlussfolgerungen zu hinterfragen.

Zunächst die Aussage der Studie bzgl. diesem berühmten Faktor 32:
Eine EBV-Infektion hat das Risiko, wenige Jahre später an MS zu erkranken, um das 32fache erhöht.

Man hat alle Militär-Angehörigen, die beim Eingangstest (in die US-Army) EBV-negativ waren und später MS bekommen haben (33) verglichen mit einer Kontrollgruppe von 90 Personen, die beim Eingangstest EBV-negativ waren und beim zweiten und dritten Test keine MS entwickelt hatten.
Beim zweiten Test (nach 2 Jahren ???) waren 28 der 33 und 40 der 90 EBV-positiv. Beim dritten Test (nach 4 Jahren ???) waren 32 der 33 und 51 der 90 EBV-positiv. Aus den Ergebnissen des dritten Tests hat man den Faktor 32 abgeleitet.
Außerdem hat man analoge Tests bzgl. anderer Viren durchgeführt, u.a. bzgl. CMV (= Cytomegalovirus). Hier gab es keine signifikanten Unterschiede bzgl. MS und Nicht-MS.

Zum Schluss noch die - leicht fehlerbereinigte - deepl-Übersetzung der Begründung (aufgrund der Länge nur auf deutsch):
"Eine kausale Interpretation unserer Ergebnisse erfordert den Ausschluss der Möglichkeit, dass systematische Unterschiede zwischen Personen, die serokonvertierten, und solchen, die EBV-negativ blieben, die Ergebnisse erklären. Diese Unterschiede lassen sich in zwei Kategorien einteilen:
(i) Verwechslungsgefahr durch bekannte oder unbekannte Faktoren und
(ii) umgekehrte Kausalität.

Eine Verunreinigung durch bekannte Faktoren ist durch die Stärke der Assoziation praktisch ausgeschlossen. Um einen 32-fachen Anstieg des MS-Risikos zu erklären, müsste jeder Verursacher einen >60-fachen Anstieg des Risikos einer EBV-Serokonversion und ein >60-faches Risiko für MS haben. Keiner der bekannten oder vermuteten Risikofaktoren für MS hat solch starke Assoziationen. Der nächststärkste bekannte Risikofaktor für MS, die Homozygotie für das HLADR15-Allel, die das MS-Risiko um das Dreifache erhöht, ist nicht mit EBV-Positivität assoziiert und kann daher die EBV-MS-Assoziation nicht erklären. Vielmehr gibt es epidemiologische und experimentelle Hinweise darauf, dass eine EBV-Infektion und HLA-DR15 bei der Verursachung von MS synergistisch wirken können. Auch die Umweltfaktoren sind viel zu schwach, um die EBV-MS-Assoziation wesentlich zu verzerren. Die Existenz eines noch unbekannten Faktors, der das Risiko sowohl für eine EBV-Infektion als auch für MS um das 60-fache erhöht, ist eher unwahrscheinlich und es gibt keine guten Kandidaten, nicht einmal hypothetische. Diese Schlussfolgerung wäre selbst für den sehr unwahrscheinlichen Fall robust, dass EBV-Serokonversion in einem der MS-Fälle ein falsch-positives Ergebnis war, denn in diesem Fall würde eine EBV-Infektion eine 16-fache Erhöhung des MS-Risikos bedeuten."

Mit der zweiten möglichen Erklärung, (ii), also der umgekehrten Kausalität, wird ebenso ausführlich umgegangen und dies ausgeschlossen. "Umgekehrte Kausalität" würde hier bedeuten, dass eine MS-Erkrankung das Risiko für eine EBV-Infektion dramatisch erhöhen würde.

Der gesamte Text steht in der Studie: https://www.science.org/doi/10.1126/science.abj8222

Michael

Tags:
EBV, Epstein-Barr-Virus


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