Die Autoimmun-Hypothese (Version 2) (Allgemeines)
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Und jetzt kommt der Clou! Wenn nämlich Lymphozyten normalerweise nicht in das Gehirn eindringen können, dann können sie auch nicht lernen, dass das Myelin eine körpereigene Substanz ist! So kam man auf Natalizumab (Tysabri®), ein Eiweiß, das die BHS dicht macht.
Die aktuelle MS-Theorie
Nun haben wir alles zusammen, was wir brauchen. Unsere heutigen Vorstellungen vom Ablauf der immunologischen Vorgänge bei der MS beruhen im Wesentlichen auf der Erforschung dieser künstlich bei Tieren erzeugten Krankheit. Danach sind im Wesentlichen fünf Schritte zu unterscheiden: Ein Virus oder ein anderer Erreger stimulieren im peripheren Blut T-Lymphozyten, die spezifisch gegen Bestandteile der weißen Hirnsubstanz gerichtet sind. Als nächster Schritt bleiben die aktivierten Zellen an der Innenhaut der Hirngefäße „kleben“, durchdringen die Blut-Hirn-Schranke und erfahren im Gehirn bzw. im Rückenmark eine zusätzliche Steigerung ihrer Aktivität, wenn sie mit Astrozyten in Kontakt kommen, die ihnen auf ihrer Oberfläche Myelinbestandteile präsentieren. Daraufhin setzen sie Zytokine, wie z.B. das Gamma-Interferon, frei, die zu einer Entzündungskaskade führen, an deren Ende die herdförmige Zerstörung der weißem Hirnsubstanz steht.
Ist die experimentelle allergische Encephalomyelitis ein geeignetes MS-Modell?
In letzter Zeit werden kritische Stimmen immer lauter, dass die EAE zwar ein Modell für die sogenannte ADEM (acute demyelinisating encephalomyelitis), eine dramatisch und ohne Schübe verlaufende Sonderform der MS sei, aber mit der MS im eigentlichen Sinn nichts zu tun habe. Tatsächlich hat die EAE eine Reihe von Schönheitsfehlern. Es gibt im Tierreich keine MS, und man muss sich fragen, ob eine krankhafte Reaktion, die auf eine sehr künstliche Weise bei Tieren provoziert wird, mit dem Wesen der menschlichen MS etwas gemeinsam haben kann. Wie wir oben gesehen haben, gelang es nur bei einem kleinen Teil der Tiere, durch die Injektion von artfremdem Hirngewebe allein eine Entzündung hervorzurufen, wobei die histopathologischen Veränderungen nur geringe Ähnlichkeiten mit MS-Herden aufwiesen. Die Ausbeute wurde erst dann größer, als man nach vielem Herumprobieren das zerriebene Hirngewebe mit Tuberkelbakterien und Mineralöl versetzte. Außerdem erkranken die Tiere nach wenigen Tagen und nicht, wie im Falle der MS, nach langer Latenzzeit, und nicht zuletzt verläuft die EAE (außer bei genetisch veränderten Meerschweinchen und Pinseläffchen) weder schubförmig noch chronisch.
Warum es Zweifel an der Autoimmun-Hypothese gibt.
Aber das ist nicht das einzige Bedenken! Wir erinnern uns: Die Geschichte begann mit den Lymphozyten, die zuhauf in den MS-Herden gefunden wurden. Es war naheliegend, daraus den Schluss zu ziehen, dass die MS eine Entzündungskrankheit sei und zwar eher eine chronische als eine akute. Aber wenn man die Lymphozyteninvasion missdeutet hätte?
Im Februar 2004 erschien in den Annals of Neurology eine histopathologische Studie. Der angesehene Neuropathologe Prineas untersuchte die Hirngewebsprobe eines 14jährigen Mädchens, das 17 Stunden nach dem Beginn eines Schubes verstorben war. Um Sie zu beruhigen: Ein MS-Schub, der zum Tod führt, ist zum Glück eine absolute Seltenheit. Er bot jedoch Prineas die einzigartige Möglichkeit, einen frischen MS-Herd in weniger als einem Tag histologisch zu untersuchen. Hätte die bisherige MS-Theorie gestimmt, dann hätte man unter dem Mikroskop eine Invasion von Lymphozyten finden müssen. Völlig überrascht musste Prineas jedoch feststellen, dass die Myelinscheiden im Herd intakt waren und jede Spur von Lymphozyten fehlte. Was er stattdessen sah, war der Untergang von Oligodendrozyten.
(Barnett MH, Prineas JW. Relapsing and remitting multiple sclerosis: Pathology of the newly forming lesion. Annals of Neurology; 55: 458-468)
Dieser Befund scheint die bisherige MS-Forschung auf den Kopf zu stellen. Die nächstliegende Schlussfolgerung ist, dass die Lymphozyten seit Jahrzehnten verkannt wurden und keineswegs die Schurken sind, für die sie bisher gehalten wurden. Sie stehen nicht am Anfang des Zerstörungsprozesses, sondern sind möglicherweise ganz im Gegenteil Träger von Reparaturmaßnahmen.
Das ist in Kürze die Geschichte über die Autoimmunhypothese, wie ich sie erzählen würde.