Es gibt nur eine Regel, die gilt (Allgemeines)
Liebe Ulma,
vielleicht geht es mir ähnlich wie Jerry, aber Ihre Geschichte bereitet mir Unbehagen. Warum? Vielleicht weil Ihre Schlussfolgerung so pessimistisch klingt. Sie lautet ja wohl: Auch wenn eine MS jahrelang gut verläuft, dann ist damit noch lange nicht gesagt, dass sie auch weiter gut verlaufen wird.
Ich muss gestehen, dass diese Aussage meine Erfahrung widerspricht. Meine Erfahrung ist, dass eine MS nur selten ihren Charakter verändert. Wenn sie milde beginnt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie das ganze Leben lang milde bleiben wird.
In dieser Hinsicht werde ich immer scharf angegriffen und mit Fragen bombardiert: Was heißt milde? Wie lange muss eine MS milde bleiben, damit man Schlüsse auf ihren weiteren Verlauf ziehen darf? Ist es nicht so, dass um das 10. bis 15. Jahr bei der MS oft ein 'Umschlag' von einem scheinbar gutartigen Verlauf in eine rasche Progredienz erfolgt?
Ich glaube, ich weiß, was mir Unbehagen bereitet: Sie ziehen möglicherweise aus dürftigen Informationen weitreichende Schlüsse. Warum ist die diese MS einer entfernteren Bekannten als gutartig eingeschätzt worden. Wie lange ist sie gutartig geblieben? Hat sie eine Basistherapie gemacht? Wie war ihre Lebenssituation? Ist vielleicht zu einer MS noch eine andere Krankheit getreten? Ein Schlaganfall z.B. wäre ja denkbar, weil sie eine Sprachstörung erwähnten.
Unterm Strich bleibe ich bei meiner Erfahrung: Ich glaube, man kann den weiteren Verlauf einer MS in den ersten 3 bis 5 Jahren verlässlich abschätzen, wenn man die Herdproduktionsrate, das Vorhandensein oder Fehlen von schwarzen Löchern und die Lebenssituation mit einberechnet.
Aber so eine Einschätzung setzt ein langes Gespräch und Erfahrung voraus. Das ist ja das, was ich immer beklage: Die Ärzte unterhalten sich zu wenig mit ihren Patienten. Sie wägen nicht mit ihnen zusammen ab, weil ein längeres Gespräch von den Krankenkassen nicht bezahlt.
Und dennoch: Nach Adam Riese wird sich der beste Arzt auch mal vertun - und wenn er sich noch so viel Mühe gibt. Wir können immer nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in die Zukunft schauen, aber wenn sich die Ärzte einmal vertan haben sollten, ist das ein Grund in Frage zu stellen, dass ein günstiger Verlauf wahrscheinlich und vorhersehbar sein kann?
Ich habe viele MS-Patienten behandelt und beraten. So weit ich weiß, habe ich mich bisher nie geirrt: Ein leichter Verlauf blieb immer ein leichter Verlauf und ein aggressiver blieb oft aggressiv. Und es gibt ja nicht nur diese beiden Exz´treme, sondern in der Mitte ja auch noch die vielen Verläufe, die - wie ich sage - so auf der Kippe stehen, wo also alles darauf ankommt, wie der eigene Charakter, Partner, Beruf, Arbeitskollegen und alles um einen herum so sind.
Auch ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass eine MS ruhig und friedlich beginnt, so dass man sie fast vergessen könnte, und dann nach vielen Jahren kommt plötzlich eine Katastrophe, dass man den geliebten Job verliert, der Partner einen betrügt oder ein Kind einen schweren Unfall erleidet. Dass die MS dann auf einmal wie aus einem Winterschlaf aufschrecken und ihren Charakter verändern kann, scheint mir logisch zu sein.
War das in dem Fall so, von dem Sie erzählten?
W.W.
PS: Manchmal frage ich mich wirklich, warum die Existenz eines gutartigen MS-Verlaufs als selten angesehen und so vehement bestritten wird?
Und warum legen MS-Forscher so viel Wert auf die Feststellung, nur Scharlatane könnten in die Zukunft schauen?