Die Verrückung der Normalität (Straßencafé)

Michael27 @, Donnerstag, 21.10.2021, 12:15 (vor 911 Tagen) @ Boggy

Ich verfolge die Entwicklung in den USA genauer, und erschrecke immer wieder über die Rücksichtslosigkeit und Hemmungslosigkeit, mit der die "Trumpisten" die Republikanische Partei umwandeln, und dort, wo sie die Macht haben, mit der gleichen Skrupelosigkeit Gesetze ändern, um die eigene Macht zu stärken.

Ähnlich - wenn auch nicht mit dieser Radikalität - läuft es unter der Tory-Johnson-Regierung im Vereinigten Königreich.

Ich sehe uns in einer weltpolitischen Lage, in der die bisher wichtigste Demokratie, die USA, außerordentlich gefährdet ist.
Und die kleinere Demokratie, das Vereinigte Königreich, ähnlich, wenn auch nicht ganz so stark.

Hallo Boggy,

ich glaube, da sind wir unterschiedlicher Meinung. Die USA und vor allem Großbritannien waren in früheren Jahrhunderten bedeutende Demokratien (Magna Carta, Petition of rights, Bill of rights, amerikanische Verfassung). Heute und schon seit vielen Jahrzehnten sind für mich die USA das Lehrbeispiel einer pervertierten Demokratie und Großbritannien das einer, ich möchte mal sagen, abgehalfterten Demokratie. Daher messe ich der aktuellen Entwicklung in diesen beiden Ländern in Bezug auf die Entwicklung oder Gefährdung der Demokratie weltweit nicht allzu viel Bedeutung bei.

Nach der Wahl von Trump 2016 hatte ich Angst vor einem Weltkrieg oder anderen nur schwer rückgängig machbaren Entwicklungen in den folgenden Jahren. Als die Wahl von Biden und der Sturm aufs Capitol vorbei waren, war ich so was von erleichtert, dass der Spuk ein Ende hatte und meine schlimmsten Befürchtungen nicht eingetreten waren. Aber da ging es nicht um die Gefährdung der Demokratie, sondern potentiell um Leben und Tod.

Jetzt meine stichwortartige Begründung zur Einschätzung des Zustands der Demokratien in Großbritannien und den USA.

Großbritannien:
Mehrheitswahlrecht (keine Chance für kleine Parteien), allmächtiges Parlament ("Wer an der Macht ist, kann jedes Gesetz beschließen, wie er will – wenn das eigene Lager mitspielt" aus https://www.deutschlandfunkkultur.de/demokratie-in-grossbritannien-ohne-netz-und-doppel... kein Verfassungsgericht, keinerlei Elemente direkter Demokratie (Brexit-Referendum kam auf Beschluss des Unterhauses zustande !), räumliche Enge des Unterhauses läßt kaum sachorientierte Diskussionen zu (hohe Emotionalität).

USA:
Direktwahl des Präsidenten (Kandidaten müssen Multi-Millionäre sein), zwei Lager (eigentlich keine Parteien), Filibuster, Haushaltssperren (die das Land lahmlegen können), überhaupt kein inhaltlicher politischer Diskurs in Senat und Repräsentantenhaus, Entwicklung des Landes durch Monopolisten und Oligopole in der Wirtschaft bestimmt (früher Öl, Automobil, dann IT, heute Software/Social Media/Big Data).

Und in der EU gibt es nur begrenzt Möglichkeiten, gegen die polnische und ungarische Regierung vorzugehen. Ich möchte aber nicht mit meinen Steuergeldern über den EU-Haushalt diese antidemokratischen Regierungen finanzieren und damit stabilisieren.

Da sind wir uns völlig einig - aber war es früher anders/besser ?

So ...
und als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, kommt die politische Weltlage dazu, mit einem zunehmend totalitären China, das an Macht gewinnt; mit einem kaum noch demokratischen, autoritären Rußland; einem Indien, das nationalistisch-hindureligiös ausgerichtet ist; und Länder wie Iran, mit religiös begründetem antidemokratischem Regime ... usw ...

Ich gebe dir in allem recht. Aber wie war es früher ? Jede Menge Atombomben- und dann auch Wasserstoffbomben-Tests in den 50er, 60er und selbst noch 70er Jahren, "kalter Krieg", Kubakrise 1962 (ich weiß noch, wie meine Eltern vor dem Radio saßen und gezittert haben), ...

Da fehlt mir dann doch die Zuversicht, daß alles gut wird.
Ich schließe es allerdings auch nicht völlig aus.

Das sehe ich ganz genauso. Ich glaube eben nur nicht, dass gerade jetzt die Demokratien stärker gefährdet sind als früher. Populistische Rechte gibt es in Europa schon seit Jahrzehnten (Berlusconi, Le Pen, Wilders, Haider, ...). Vielleicht agieren sie heute mehr aus der Mitte der sog. großen konservativen Parteien heraus. Natürlich spielen seit 15-20 Jahren die "sozialen Medien" eine große Rolle. Aber ansonsten: nichts Neues. Auch Hitler hat schon das Radio geschickt eingesetzt. Und es gab schon immer Versuche durch Einzelpersonen oder Grüppchen, große Parteien "zu kapern" - nicht nur konservative.

Michael


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