Seltsame Begegnung (Straßencafé)

W.W. @, Dienstag, 26.04.2022, 13:12 (vor 725 Tagen)

Ich schreibe es gleich, weil es noch ganz frisch ist. Dienstags hat das Eiscafé von Fabiola ja geschlossen. Ich trinke dann meinen Café in der Eingangshalle von REWE (Supermarkt) und überarbeitete gerade das 1. Kapitel meiner Erzählung über ein unerwartetes Wiedersehen nach 50 Jahren.

Damit mich niemand entdeckt, verstecke ich mich immer hinter einer Säule. Nach etwa einer Stunde kam trotzdem ein älterer weißhaariger Mann um die Säule herum und sagte: "Sie schreiben bestimmt Ihre Memoiren!" Ich sagte überrascht: "Ja." Und er: "Das ist ja auch besser als zu Hause, wo man dauernd gestört wird." Ich erwiderte, dass ich tatsächlich das Stimmengewirr um mich herum als sehr stimulierend empfände. Daraufhin erzählte er, er sei Musiker, und ich sagte, dass sei ja merkwürdig, weil ich gerade über ein Kapitel geschrieben hätte, in dem es um die 'Winterreise' von Schubert gehe.

Er war kein bisschen überrascht und meinte, Fischer-Dieskau sei sein Lieblingsinterpret. Er stand immer noch vor meinem Tisch. Ich bat ihn, sich zu setzen, aber er bedauerte und entschuldigte sich, weil er zu Hause Besuch erwarte.

Er habe in Wien Musik studiert und hätte seine Examensarbeit über russische Komponisten, Glinka und Glasunow, geschrieben, aber später nur noch Jazz gespielt. Ich erwähnte natürlich Friedrich Gulda, und er erzählte, er habe ihn einmal in Wien persönlich erlebt, als ihm die Beethoven-Medaille verliehen worden sei.

Alle Honoratioren seien piekfein angezogen gewesen und dann kam Friedrich Gulda in den Saal und sah aus, als ob er gerade von der Gartenarbeit käme. Alle klatschten, und er fragte: "Was soll ich spülen?" Er hätte 'spülen' gesagt, und spielte dann auf Zuruf immer einen Satz aus Beethovens Klaviersonaten gespielt, auch op. 111. Nach mehr als zwei Stunden habe er sich verbeugt und habe den Saal verlassen, und erst dann merkt man, dass man vergessen hätte, ihm die Medaille zu überreichen.

Er schaute zur Uhr, und ich sagte ihm noch schnell, dass ich heute nur zufällig hier sitze, aber sonst im Eiscafé im Kurhaus zu finden sei. Er versprach zu kommen und verabschiedete sich.

Ist das nicht eine merkwürdige Geschichte und ein merkwürdiges Treffen? Ich denke, so ganz zufällig ist das alles nicht! Vielleicht ist es ja so, es scheint sich alles zu fügen, wenn man vieles überblickt. Dann wäre es geradezu ungewöhnlich, wenn man dann etwas erleben würde, was nicht in das schon einmal Erlebte oder Erdachte passen würde.

W.W.


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