Über Gespäche (Straßencafé)

W.W. @, Montag, 13.12.2021, 14:40 (vor 836 Tagen)

Merkwürdigerweise mache ich mir sehr viel Gedanken über das Gespräch, obwohl es schrullig klingt und sich das vermutlich gar nicht lohnt.

Meine Tochter macht sich immer über mich lustig, wenn ich sie vom Bahnhof abhole und frage, ob sie sich im Zug gut unterhalten habe. Sie hält es für unsinnig, sich mit einem wildfremden Menschen zu unterhalten, und meint wohl auch, der andere würde es sich verbitten, wenn man ihm ein Gespräch aufzwingen wolle.

Früher war das anders, und ich habe mich gern im Zug mit wildfremden Leuten unterhalten. Die Zeit verging schneller, und oft war man überrascht, wenn man merkte, dass man aussteigen musste. Heutzutage ist es im Zug wohl ganz anders. Man leidet unter jemandem, der einem gegenüber sitzt und sich per Handy mit irgendjemandem unterhält. Wenn er oder sie merken, dass sie zu laut sprechen, dann verringern sie ihre höflich Lautstärke, aber leider scheint es dem Menschen angeboren zu sein, dass er instinktiv erst recht genauer hinhören muss, wenn jemand leise leise spricht. Man kennt das aus der Sauna, wenn zwei sich flüsternd unterhalten.

Ein anderes Phänomen ist, wenn man also notgedrungen zuhören muss, entdeckt man oft, wie banal solche Gespräche sind. Im 19. Jahrhundert gab es das Bonmot 'Was zu dumm ist, gesagt zu werden, wir gesungen!’, heutzutage könnte man sagen: ‚Was sich eigentlich nicht zu sagen lohnt, kann man sich immerhin noch per Handy mitteilen.’

Vielleicht kennst auch das: Wenn man sich gemütlich zum Kaffeetrinken getroffen hat. Man spricht über die alte Zeit, erinnert sich an einen Schlager von damals, kommt aber nicht auf den Titel, dann wird mit Sicherheit jemand zu seinem Handy greifen und sagen: ‚"WArtet, ich schau bei Wikipedia nach, und kann es euch genau sagen.’Immer häufiger erfahre ich auch über eine neuartige Art der Kommunikation: Man erspart sich die Mühe, dem anderen etwas mitzuteilen, sondern schickt ihm 'ohne Worte' ein witziges Youtube zu.

Die Art zu kommunizieren, ist also eine andere geworden. Was haben wir uns früher am Stammtisch gestritten! Jetzt werde ich bei dem Gedanken schamrot, dass ich mich früher ab und zu damit wichtig gemacht haben dass ich eine Ansicht möglichst krass formulierte, um Widerspruch zu provozieren, wie man bei einem Ritterturnier eine besonders spektakuläre Attacke reitet.

Wenn ich daran denke, wie ich mit meiner Frau beim Frühstück sitze, und wir uns unterhalten, frage ich mich: Worüber eigentlich? Über etwas, dass wir im Supermarkt kaufen müssen, oder dass heute irgendwer Geburtstag hat.Ich bin dankbar, dass wir heute morgen über einen Film sprachen, den wir gestern Abend auf ARTE gesehen hatten. Es ging um den Holocaustleugner David Irving. Meine Frau fand den Film übertrieben und schlecht gemacht, ich war ganz im Gegenteil berührt und der Ansicht, es gäbe möglicherweise eine Faszination, die von den Nazis ausgehe, die weit unterschätzt würde.

Obwohl ich die Expertenmeinungen kaum noch richtig voneinander zu unterscheiden weiß und ich in Informationen zu ertrinken drohe, zieht es mich doch zu ‚Bürgergesprächen’, wenn es um Themen geht, die unser Dorf angehen: Sollen auf einer Anhöhe Windkrafträder gebaut werden? Wie sinnvoll ist der Weiterbau, die unsere Bundesstraße und den Verkehr durch die bewohnten Gegenden entlastet, und wie stehe ich zu einer Impfpflicht?

Wie ich höre, gibt es wohl viele Menschen, die sich zurückgezogen haben. Sie sind es überdrüssig geworden, sich etwas anderes anzuhören oder anzusehen als das, was kluge Journalisten oder kluge Wissenschaftler geschrieben haben. Manche sind froh darüber, nicht mehr von Anderen belästigt zu werden, und ziehen es sogar vor, den Heiligen Abend alleine zu verbringen.

Früher war also das Gespräch ein Meinungsaustausch, ein Interesse daran, was der andere denkt. Ich fürchte, man ist in dieser Zeit zu leicht geneigt, das, was man im Internet liest oder in den Nachrichten hört, für 'objektiver' bzw. wissenswerter zu halten, als das, was einem ein anderer erzählt - und oft ist es wohl sogar interessanter als das, was die Großmutter früher den Enkelkinder erzählt hat.

W.W.

Über Gespäche

fRAUb, Donnerstag, 16.12.2021, 22:07 (vor 833 Tagen) @ W.W.

Das ist so ein umfangreicher Text, dass man nicht weiß, an welcher Stelle man antworten soll.

Die Gespräche mit ihrer Frau, Nunja, das ist halt der Alltag und der macht in den meisten Fällen über 90% des (zusammen-) Lebens aus. Freuen Sie sich. Sie bestimmen den Einkauf mit!
Außerdem, sind Sie ja auch nicht mehr der gesundeste.
Mir geht's oft so, dass ich denke, dass so ein Alltag mit einer Behinderung auch nicht langweilig wird und das Leben damit auch spannend macht.
Wenn ich dann wieder überlegen muß, wie ich das, was ich schaffen will, jetzt wieder hinkriege, ist das auch wieder eine Herausforderung.


Ich kann nicht schreiben, wie oft ich in den letzten Jahren mit irgendwelchen Leuten die ich kenne über das Wetter gesprochen habe. "ist schön, eklig, kalt, nass, heiß, windig ... heute" egal. Es sind nur oberflächliche Gespräche, aber man ist in Kontakt und nicht allein.
Das ist wertvoll.

"was zu dumm ist gesagt zu werden, kann man immer noch singen"... Naja, würde mich interessieren, was Friedrich Schiller dazu gesagt hätte und Ludwig von Beethoven.


*zwinkersmiley,

fRAUb

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W.W. @, Freitag, 17.12.2021, 11:01 (vor 832 Tagen) @ fRAUb

Geht es nur darum, keine Allgemeinplätze zu sagen oder sich im small talk zu verlieren? Nein, das "Guten Morgen" ist wichtig, wenn man frühmorgens an eine Bushaltestelle kommt, um den anderen Wartenden mitzuteilen, dass man ein ganz normaler gesitteter Mensch ist, und man könnte sogar neben jemandem auf einer Parkbank sitzen und schweigen, ohne dass das unangenehm wäre.

Ich bin sehr für mitmenschlichen Kontakt -, so wie Vögel sich miteinander unterhalten, aber ich wollte meine Angst zum Ausdruck bringen, dass dieser durch etwas ersetzt wird, das mir fremd und unheimlich erscheint.

Würde ich neben demselben Menschen eine Stunde lang auf der Bank sitzen, wenn er ständig ins Handy sprechen würde?

W.W.

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Über Gespäche

agno @, Freitag, 17.12.2021, 11:13 (vor 832 Tagen) @ W.W.

Geht es nur darum, keine Allgemeinplätze zu sagen oder sich im small talk zu verlieren? Nein, das "Guten Morgen" ist wichtig, wenn man frühmorgens an eine Bushaltestelle kommt, um den anderen Wartenden mitzuteilen, dass man ein ganz normaler gesitteter Mensch ist, und man könnte sogar neben jemandem auf einer Parkbank sitzen und schweigen, ohne dass das unangenehm wäre.

Ich bin sehr für mitmenschlichen Kontakt -, so wie Vögel sich miteinander unterhalten, aber ich wollte meine Angst zum Ausdruck bringen, dass dieser durch etwas ersetzt wird, das mir fremd und unheimlich erscheint.

Würde ich neben demselben Menschen eine Stunde lang auf der Bank sitzen, wenn er ständig ins Handy sprechen würde?

W.W.

Es ist ein Unterschied, ob junge Leute, von und zur Arbeit, in der Großstadt, den distanzfreien öffentlichen Nahverkehr benutzen.
oder
Ob Wolfgang Weihe gutgelaunt seinen Urlaub mit der Bahn antritt.
Aber Du hast recht. Mein Schwiegervater berichtete mir von einem Freundeskreis "MitderBahnzurArbeit", wo man auch im Urlaub mal ein Bier miteinander getrunken hat. Obwohl Sie keinerlei andere Verbindungen hatten, sich später in der Rente, nur zum Treff verabredet haben.
Reden ist netter :-)
Aber die Emotionen anderer Menschen sind so wie sie sind.
Es scheint Menschen zu geben, die von einem unangenehmen Gefühl beschlichen werden, wenn Sie mit unbekannten Menschen umgeben sind. Tendenziell würde ich das unter "behandlungsbedürftig" verorten. Aber niemals laut aussprechen. ;-) Friede!
Gruß agno

P.S.: Reisegespräche mit fremden Menschen haben etwas wunderbares. Manchmal können sich zwei Menschen ohne manipulative Ziele und ohne dem Wunsch nach Selbstschutz sehr intim unterhalten. Man geht ja nachher weiter. Auf dem Arbeitsweg würde ich das so nicht tun.

Mir hat mal ein Fahrradreisender mit Minizelt und Schlafsack auf dem Gepäckträger, beim Kaffee seinen Alkoholismus gebeichtet. Nur auf Radreisen sei er "trocken". Das sind besondere Begegnungen.

--
Weiß nicht, woher ich komm, weiß nicht, wie lang ich bleib, weiß nicht, wohin ich geh, mich wundert, dass ich glücklich bin ...

Gespräche helfen uns beim Denken!

W.W. @, Freitag, 17.12.2021, 12:53 (vor 832 Tagen) @ agno

Auch dieses Gespräch zeigt mir, dass es einen Punkt gibt, den ich nicht klar genug benannt habe: Auch wenn man es zu Beginn eines Gespräches nicht genau weiß, worauf man hinauswill, so wird es oft im Lauf des Gesprächs klarer. Das Gespräch hilft einem also, klarer zu denken.

Wolfgang

Über Gespäche

W.W. @, Mittwoch, 05.01.2022, 17:48 (vor 813 Tagen) @ agno

Es ist schwieriger geworden, sich auszutauschen! Allein wegen der Konkurrenz mit dem Internet? Sind es die Youtubes und die Allwissenheit von Wikipedia? Ist jede 'grammy' im Fernsehen der eigenen Großmutter überlegen?

Aber es ist - glaube ich - eine neue Erwartung an den Anderen: Er oder sie sollen sympathisch und interessant sein: eben kurzweilig.

Und hier im MS-Forum? Gibt es wirklich noch Interessantes und Neuartiges? MS-Medikamente, die man besprechen möchte? Eine neue Umgangsweise mit der MS? Etwas, das aufrüttelt? Oder ist alles unter dem Staub von Talaren erstickt? Gibt es die DMSG überhaupt noch?

Hat Corona alles plattgemacht? Oder die fake news? Oder die Relotius-Affäre? Oder ist es ein lähmendes Schweigen? Eine Friedhofsruhe?

W.W.

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Über Gespäche und Traumwelten

agno @, Mittwoch, 05.01.2022, 23:07 (vor 813 Tagen) @ W.W.

Es ist schwieriger geworden, sich auszutau.schen! Allein wegen der Konkurrenz mit dem Internet? Sind es die Youtubes und die Allwissenheit von Wikipedia? Ist jede 'grammy' im Fernsehen der eigenen Großmutter überlegen?

Aber es ist - glaube ich - eine neue Erwartung an den Anderen: Er oder sie sollen sympathisch und interessant sein: eben kurzweilig.

Und hier im MS-Forum? Gibt es wirklich noch Interessantes und Neuartiges? MS-Medikamente, die man besprechen möchte? Eine neue Umgangsweise mit der MS? Etwas, das aufrüttelt? Oder ist alles unter dem Staub von Talaren erstickt? Gibt es die DMSG überhaupt noch?

Hat Corona alles plattgemacht? Oder die fake news? Oder die Relotius-Affäre? Oder ist es ein lähmendes Schweigen? Eine Friedhofsruhe?

W.W.

Nein!
Wenn man über Gleichungen reden würde, dann müsste das eigentlich immer funktionieren.
Bei einem politischen System, wenn der Sieger vom Glauben der Beobachter bestimmt wird, ist alles anders.
Ich behaupte mal, bei Krankheit treffen sich die Gleichung und die Politik. Es braucht besondere Bedingungen, um über die Gleichungen der Medizin zu reden. Die Politik ist immer dabei. Sichtbar und unsichtbar.
Diese wunderbare Leichtigkeit, welche Du und wahrscheinlich alle vermissen, ist nicht eine verlorene Normalität. Sie war eine wunderbare Orchidee. Ein seltenes Geschenk. Vielleicht wenn viele Menschen sehr vorsichtig sind, vielleicht gedeiht diese Orchidee irgendwann wieder. Jeder der vorsichtig und behutsam weiter schreibt, glaubt daran, dass irgendwann wieder jeder frei aus dem Bauch schreibt und sich dabei niemand angegriffen fühlt. Vielleicht...

gruß agno

--
Weiß nicht, woher ich komm, weiß nicht, wie lang ich bleib, weiß nicht, wohin ich geh, mich wundert, dass ich glücklich bin ...

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Über Gespäche und Traumwelten / P.S.:

agno @, Donnerstag, 06.01.2022, 09:05 (vor 812 Tagen) @ agno

Ich könnte mich irren. Einfach normal weitermachen?
überlegt agno

P.S.: Ein Zitat für W.W.

“Nichts ist weniger sicher, als daß die Wahrheit geliebt werden will, geliebt werden kann, geliebt werden darf.”
Hans Blumenberg

Für mich:
Man muss das positiv sehen. Es ist zwar das Ende der Welt, wie wir sie kennen, aber wir lernen auch total viel...
Lars Fischer

--
Weiß nicht, woher ich komm, weiß nicht, wie lang ich bleib, weiß nicht, wohin ich geh, mich wundert, dass ich glücklich bin ...

Über Gespräche

W.W. @, Samstag, 18.12.2021, 16:14 (vor 831 Tagen) @ W.W.

Als ich über diesen Thread nachgedacht habe, ist mir aufgefallen, dass ich aus Versehen 'Über Gespäche' geschrieben und das 'r' vergessen hatte. Ich bitte diese Nachlässigkeit zu entschuldigen. Aber mir ist noch ein zweites aufgefallen, dass sich nämlich so viele für das Thema interessiert hatten, ohne darauf zu antworten.

fRAUb schrieb ja, ich hätte so viele Punkte angesprochen, dass man Schwierigkeiten hätte, etwas dazu zu sagen, was ja in gewisser Hinsicht auch eine Kritik sein könnte. Auch das könnte zu einem Gespräch gehören, das man scheinbar endlos miteinander redet und redet und sich nicht richtig einigen kann, warum es eigentlich geht?! Das kristallisiert sich nämlich erst so langsam heraus!

Insofern hilft einem ein Gespräch wirklich beim Denken. Aber kann man sich nicht kurz und klar ausdrücken? Gerade diese Fähigkeit scheint mir abzugehen, indem ich mich mit meinen Gedanken im Vagen bewege und darauf warte, sie möchten im Gespräch langsam klarer werden.

Der Andere wird also im Gespräch wie in einer Endlosschleife gefangen, eine Schleife, die sich - wenn es ein gutes Gespräch - allmählich wie ein Nebel auflöst und sich als Spirale entpuppt, die sich unmerklich eine Stufe nach oben bewegt hat.

W.W.

Über Gespräche

fRAUb, Samstag, 18.12.2021, 16:35 (vor 831 Tagen) @ W.W.

... Oder nach unten.

Je nachdem welchen Anspruch man an Gespräche hat.

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