MS - Komplexität (Allgemeines)

Boggy, Donnerstag, 19.12.2019, 15:39 (vor 1561 Tagen) @ W.W.

Wenn ich z.B. sage, die MS sei oft eine Autoimmunkrankheit, könnte im Einzelfall aber auch andere Ursachen haben, dann ist das einerseits eine sehr liberale und tolerante Aussage, könnte andererseits aber auch eine klare Stellungnahme verhindern. Aber - wie schon eingeräumt, das könnte mein ganz persönliches Problem sein.


Um die Komplexität der Vorgänge bei der MS nochmal im Überblick ins Gedächtnis zu rufen
– für den interessierten Leser (Achtung Dissertation, leider nicht für Laien geschrieben :-( ) –
gleich ein längeres Zitat.

(Vorab: die Frage nach den "schwelenden Läsionen" ("smoldering white matter plaques") kommt hinzu; dazu z.B.
https://journals.lww.com/neurotodayonline/Fulltext/2019/06200/What_New_Understanding_of...

NeurologyToday:
What New Understanding of Progressive MS Reveals About Disease Progression
By Richard Robinson
June 20, 2019)

Die Dissertation:
Aus der Abteilung Neuropathologie (Prof. Dr. med. Wolfgang Brück) im Zentrum Pathologie und Rechtsmedizin der Medizinischen Fakultät der Universität Göttingen.

https://d-nb.info/1046721844/34

2013

„1.2.2 Histopathologische Veränderungen

Histologisch sind die Plaques in der weißen Substanz initial gekennzeichnet durch einen Verlust der Myelinscheiden und durch ein entzündliches Infiltrat.
Des Weiteren finden sich häufig Hinweise auf eine Schädigung der Axone wie axonale Schwellungen, die auf eine Durchtrennung der Axone hindeuten.
Anhand der histologischen Zusammensetzung können die Läsionen entsprechend ihrer zeitlichen Entstehung in unterschiedliche Aktivitätsstadien eingeteilt werden.

In den früh aktiven Plaques findet sich eine Vielzahl von Entzündungszellen, wie B-und T-Lymphozyten, aktivierte Mikrogliazellen und vor allem Makrophagen, die in ihrem Zytoplasma Myelinabbauprodukte enthalten. Dadurch erscheinen die frühen akuten Läsionen hyperzellulär und ödematös.
Im Laufe der Zeit nehmen die Entzündungszellen in den Läsionen ab.

Chronisch inaktive Herde weisen nur noch wenige Entzündungszellen auf und erscheinen hypozellulär. Diese Läsionen zeigen typischerweise eine Fasergliose.

Oligodendrozytenverantwortlich für die Bildung der Myelinscheiden sind in chronischen Läsionen meist deutlich vermindert.

Chronisch aktive Läsionen bestehen aus einem inaktiven, hypozellulären Zentrum, das von einem hyperzellulären Saum aus Makrophagen umgeben ist, in dem weiterhin Myelin abgebaut werden kann.
Bei so genannten „Shadow-Plaques“ handelt es sich um remyelinisierte Läsionen, die entweder komplett oder partiell remyelinisiert sein können. Sie sind gekennzeichnet durch Nervenfasern, deren Myelinscheiden relativ zum Axondurchmesser dünner sind als bei vergleichbaren gesunden Nervenfasern.
In frühen Läsionen kann diese Remyelinisierung den ganzen Herd durchziehen und parallel zur aktiven Entmarkung stattfinden. In chronischen Läsionen kommt es nur stellenweise zu Remyelinisierung. Die neu gebildeten Markscheiden erreichen nie ihre ursprüngliche Dicke, können aber zu einer partiellen oder
vollständigen funktionellen Wiederherstellung führen (Lassmann et al. 1997, Lassmann 1998).

Neurophysiologisch verursacht der Verlust der Myelinscheiden eine Störung der saltatorischen Erregungsleitung, so dass es zur Leitungsverlangsamung der Erregungen kommt. Zwar ist die MS primär eine Erkrankung des Myelins und der Oligodendrozyten, aber es treten auch frühzeitig Schädigungen von Axonen und Neuronen auf (Trapp et al. 1998, Peterson et al. 2001). Durch axonale Durchtrennungen kommt es zum Verlust der Erregungsfortleitung. Zunehmender Axonverlust insbesondere im Bereich der motorischen Bahnen führt daher zu einem Großteil der bleibenden Behinderungen bei den MS-Patienten

1.2.3 Pathogenese

Eine Schlüsselrolle bei der Entstehung der Inflammation und der damit verbundenen Demyelinisierung spielen autoreaktive T-Zellen. Sie können mit Hilfe bestimmter Adhäsionsmoleküle unabhängig von ihrer Antigenspezifität die sonst für Immunzellen kaum durchlässige BHS überwinden (Tan et al. 2002). Die Entzündungskaskade wird in Gang gesetzt, wenn die T-Zellen durch ein entsprechendes Antigen, das an MHC-II-Moleküle gebunden ist, erstmalig aktiviert werden. Nachdem die T-Zellen ihr Zielantigen im ZNS-Gewebe erkannt haben, proliferieren sie und sezernieren proinflammatorische Zytokine, die schließlich zum Zusammenbruch der BHS führen (Westland et al. 1999). Daraufhin können auch B-Zellen, Antikörper und Komplementfaktoren ins ZNS gelangen, die für die Entstehung der charakteristischen demyelinisierenden Plaques eine wichtige Rolle spielen.


Nach neueren Forschungsergebnissen können unterschiedliche pathogenetische Mechanismen zur Entmarkung führen.

Diese Ergebnisse beruhen auf Untersuchungen an früh aktiven MS-Läsionen.
Diese früh aktiven Läsionen sind histopathologisch durch Makrophagen mit immunhistochemisch nachweisbaren inkorporierten Abbauprodukten großer Myelinproteine (Myelin-basisches Protein, Proteolipid-Protein) und vor allem auch kleiner Myelinproteine (Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein, Myelin-assoziiertes Glykoprotein und CNPase (cyclic nucleotide phospodiesterase)) gekennzeichnet.

In Autopsiefällen sind meist nur wenige früh aktive Läsionen zufinden. Eine größere detaillierte Studie zu früh aktivenLäsionen erfolgte daher an Biopsiematerial von MS-Patienten. Diese Studie eines großen Patientenkollektivs konnte mittels immunhistochemischer Methoden

vier verschiedene Entmarkungsmuster feststellen (Lucchinetti et al. 2000).

I.Makrophagen-assoziierte Entmarkung
II.Makrophagen-assoziierte Entmarkung mit Beteiligung von Immunglobulinen und Komplementfaktoren
III.Entmarkung mit distaler Oligodendrogliopathie und Oligodendrozytenapoptose
IV.Primäre Oligodendrozytendegeneration in der periläsionalen weißen Substanz

Die Muster I und II ähneln aufgrund ihrer erhöhten T-Zell-und Makrophagendichte einer Autoimmunreaktion, wobei in Typ-II-Läsionen zusätzlich humorale Faktoren wie Komplement-und Immunglobulinablagerungen nachgewiesen werden können.

Bei diesen beiden Gruppen wird primär das Myelin angegriffen. Oligodendrozyten sind in aktiven Bereichen vermindert, treten aber im Plaquezentrum wieder auf. Diese beiden Muster lassen oft eine Remyelinisierung erkennen.

Die Muster III und IV deuten hingegen eher auf eine primäre Schädigung der Oligodendrozyten hin entweder innerhalb der Läsion (TypIII)
oder in der dem Plaque benachbarten weißen Substanz (TypIV). Aus dem Untergang der Oligodendrozyten resultiert dann sekundär die Entmarkung.

Das Muster IV wurde allerdings ausschließlich an (wenigen) Autopsiefällen mit primär-progredienter MS beobachtet. Die Läsionsmuster unterscheiden sich von Patient zu Patient, sind jedoch in den multiplen Plaques des gleichen Patienten sehr ähnlich. Die Mehrzahl der untersuchten Patienten weist eine Demyelinisierung vom Typ I und II auf, die durchT-Zellen und Makrophagen und zusätzlich humorale Faktoren im Fall des TypII gekennzeichnet ist. Die früh aktiven Läsionengehen später in chronische Plaques über, bei denen diese Charakteristika nicht mehr nachweisbar sind, so dass die MS möglicherweise als gemeinsame Endstrecke verschiedener immunologischer Prozesse angesehen werden kann.

1.2.4 Pathologie der grauen Substanz

Wie bereits erwähnt sind demyelinisierte Läsionen nicht auf die weiße Substanz beschränkt, sondern finden sich auch im Kortex und der tiefen grauen Substanz. Obwohl kortikale Läsionen schon 1962 von Brownell und Hughes beschrieben wurden, fanden sie

lange Zeit wenig Beachtung, weil sie mit Standard-Färbemethoden und den konventionellen MRT-Untersuchungen schwer zu erkennen sind. Mit modernen immunhistochemischen Methoden lassen sich allerdings auch demyelinisierte Läsionen im Neokortex beim Großteil der Patienten autoptisch nachweisen (Kidd et al. 1999, Peterson et al. 2001, Bö et al. 2003).

Je nach Lokalisation werden drei Typen kortikaler Läsionen unterschieden:
(…)

Besonders auffällig war auch eine geringere Synapsendichte in neokortikalen Läsionen (Verminderung von Synaptophysin um fast 50%).
Cifelli et al. zeigten 2002eine 30-35%ige Reduktion der Neuronendichte im Corpus geniculatum laterale, einem Kerngebiet des Thalamus, bei Patienten mit MS im Vergleich zu gesunden Kontrollfällen.
Dieser Neuronenverlust ist vermutlich zum Großteil für die Thalamusatrophie bei MS verantwortlich. Des Weiteren waren die Neurone im Corpus geniculatum lateralebei MS-Patienten kleiner als bei gesunden Kontrollfällen.
(…)
Kortikale demyelinisierte Läsionen sind vor allem nach langer Krankheitsdauer zu finden (Kutzelnigg et al. 2005, Albert et al. 2007).

Sie wurden bislang meist mit einem progredienten Krankheitsverlauf assoziiert (Bö et al. 2003, Kutzelnigg et al. 2005, Vercellino et al. 2005). Sie könnten daher eine Rolle in der Krankheitsprogression und bei der Entstehung neuropsychologischer Symptome spielen.

Allerdings wurden auch kortikale Läsionen in Biopsiematerial von Patienten mit früher MS beobachtet (Lucchinetti et al. 2011). Kürzlich konnte eine neuere MRT-Studie zeigen, dass kortikale Läsionen sogar bei Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom, der Erstmanifestation einer MS, nachweisbar sind (Calabrese et al. 2007). Künftige Studien mit neuen magnetresonanztomographischen Methoden könnten bald Hinweise zur klinischen Relevanz kortikaler Läsionen liefern und damit zum besseren Verständnis der klinisch heterogenen Erkrankung beitragen.


1.2.5 Neuronale Veränderungen in der weißen Substanz bei MS

Es wird also deutlich, dass neurodegenerative Veränderungen eine wichtige Rolle bei der MS spielen. Hierfür spricht auch die Beobachtung, dass die Atrophie die weiße und graue Substanz betrifft (Ge et al. 2001, Chard et al. 2002, Sastre-Garriga et al. 2004). "

Gruß
Boggy

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Um unserer persönlichen und gesellschaftlichen Freiheit willen müssen wir immer wieder die Saat des kritischen Verstandes und des begründeten Zweifels säen.

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