Merkt Ihr nüscht? (Straßencafé)

W.W., (vor 1951 Tagen) @ Doro

Liebe Doro,

ich antworte spontan und vermutlich unüberlegt. Was ist da passiert? Mein Denken ist bekanntermaßen ziemlich umständlich, und ich drehe es so:

Jemand soll als Kabarettist vor Demonstranten in Stuttgart sprechen. Man kann davon ausgehen, dass die meisten gekommen sind, weil sie das Gefühl haben, von der Politik an der Nase herumgeführt zu werden. Sie empfinden die Corona-Maßnahmen als übertrieben, halten den Mundschutz für einen Maulkorb und sprechen sogar von einer Corona-Diktatur.

Nun beginnt Florian Schröder zu sprechen, und er weiß genau, wen er vor sich hat, also outet er sich zunächst als jemand, der vom "Mainstream" ist. Jedermann versteht, dass er die "Lügenpresse" meint, und applaudiert im begeistert.

In diesem Moment wird ihm klar, dass es kaum einen Unterschied machen würde, wenn er vor einer Horde mit Pegida-Anhängern auftreten würde, sie würden in ähnlicher Weise johlen - und er wird schreckensbleich.

Aber die Demonstranten sind begeistert, dass da oben auf dem Podium jemand steht, der dem Volk aufs Maul schaut und sagt, was Sache ist!

Der Teufel hat von Florian Schröder Besitz ergriffen, und es ist ihm, als ob er gegen einen Stachel löcken müsse, und er geht so weit zu rufen: "Wollt ihr die totale Meinungsfreiheit?!"

Vielleicht regt sich ein ungutes Gefühl, denn jeder kennt diesen Satz von Goebbels über den totalen Krieg, aber noch ist die Stimmung gut und ungeteilt: "Ja, wir wollen die totale Meinungsfreiheit!"

Jetzt erst scheint der Kabarettist den Ernst der Lage zu erkennen. Er reitet auf einer Rasierklinge. Wenn er die Leute so weit gebracht hat, dann wird er jetzt ein leichtes Spiel haben. Er muss nur noch aufzählen, wie die Menschen gegängelt und in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt werden. Das Übliche halt: Mundschutz, Versammlungsfreiheit, die Lächerlichkeit des RKI, Jens Spahn und sein Versuch, sich die Maske korrekt aufzusetzen, ...

Aber auf einmal ist ihm so unheimlich, dass ihm - ob er es will oder nicht - die Pferde durchgehen, und er sagt: "Wenn das wirklich stimmen würde, dass wir in einer Diktatur leben würden und die Politiker uns unsere demokratischen Rechte beschneiden wollen, dann dürften wir uns hier nicht versammeln!"

Das saß! Unruhe im Publikum. Man weiß nicht so recht, ob man richtig gehört hat. Und der Kabarettist fügt hinzu: "Und wenn ich sage, dass ich stolz bin, in dieser Demokratie zu leben, die die Corona-Krise so gut gemanagt hat, dann müsst ihr das aushalten!"

Die Buhrufe setzen sich durch.

So ist das wohl passiert, und viele sind begeistert, ohne zu bemerken, dass sie betrogene Betrüger sind. Sie sind begeistert und haben gar nicht bemerkt, dass sie ein kluger Kabarettist über den Tisch gezogen hat. Denn es ist durchaus denkbar, dass er die Sorgen der Demonstranten teilt und dennoch den Eindruck erweckt hat, er sei gegen sie.

Geht das überhaupt? Kann man so durchtrieben sein? Ist das nicht das krasse Gegenteil von "Du sollst Ja ja und Nein Nein sagen." Ist KISS nicht ein Ideal, dass man das Publikum nicht mit Hypnose und Massenhysterie regiert wie ein schlechter Variétékünstler?

Über wen macht sich Florian Schröder lustig? Ich glaube, er hat das Gegenteil von dem gemeint, was er den Demonstranten vorgespielt hat. Dürfen wir uns einbilden, wie seien klüger als die Menschen, die wir verführen wollen?

W.W.

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