Die Verrückung der Normalität (Straßencafé)

Michael27 @, Mittwoch, 20.10.2021, 18:51 (vor 919 Tagen) @ Boggy

Hallo Boggy,

da machst du ein riesiges Fass auf ! Ich versuche mal, dazu etwas zu schreiben. Aber es wird notgedrungen sehr bruchstückhaft bleiben müssen. Um es seriös zu machen (und auch dann wäre es im wesentlichen nur meine persönliche Meinung und nichts wirklich empirisch oder wissenschaftlich oder durch entsprechende Belege Abgesichertes oder Untermauertes), bräuchte ich viele Stunden hochkonzentrierter Arbeit - und die habe ich natürlich nicht und will ich mir auch nicht dafür nehmen.

Zunächst: ich könnte mir vorstellen, dass wir beide von unseren politischen Überzeugungen nicht übermäßig weit auseinander sind.

Trotzdem sehe ich manches anders als in diesem Artikel. Mal ganz grundsätzlich vorneweg: ich glaube weder, dass früher alles besser war noch dass heute fast alles besser ist als früher. Es gibt Entwicklungen in beide Richtungen, Verbesserungen und Verschlechterungen. Allerdings sind die Entscheidungen, die global zu treffen sind, immer essentieller. Früher konnte man als Weltbevölkerung manches "wegstecken". Die Erde/Natur/Umwelt hat sich durch unser menschliches Verhalten kaum verändert.

Aber das war jetzt eher ein Exkurs. Jetzt zu dem Artikel. Ich schreibe meine Meinung mal stichwortartig auf.

Wenn man von den 2 großen politischen Kräften/Strömungen in Europa von Konservativen und Sozialdemokraten spricht, dann ist in fast allen europäischen Ländern deren Auflösung/Schrumpfung/Relativierung eigentlich schon geschehen. Deutschland ist ein Nachzügler.

Dann ärgert mich etwas die Gleichsetzung des Begriffs "konservativ" mit Parteien rechts der Mitte. Ich würde z.B. eine ÖDP auch als sehr konservativ im besten Sinne bezeichnen oder auch einen Herrn Kretschmann als konservativ. Das ist mir zu schablonenhaft.

Überspitzt formuliert: vor 50 Jahren hat die Frau dieselbe Partei gewählt wie ihr Mann, der Pfarrer hatte großen Einfluss auf das Wahlverhalten - und das politische Engagement der Meisten ging nicht über das Kreuzchen-Machen am Wahltag hinaus. Heute ist das - meiner Meinung nach - deutlich anders. Es gibt Bürgerentscheide, Engagement in Bürgerinitiativen, vielerlei sozial- oder umweltpolitische Aktivitäten (Tafel, Flüchtlingshilfe, Greenpeace, BUND, usw.). Allein BUND und Nabu haben jeweils weit mehr Mitglieder als CDU oder SPD.

Ja, natürlich stellen die sozialen Medien bzgl. der Beeinflussbarkeit von Massen eine Gefahr da. Und ja: ein Großteil der Bevölkerung wird nach wie vor einem charismatischen Redner hinterherlaufen. Aber es hat z.B. auch die SPD in Sachsen-Anhalt bei der Bundestagswahl dreimal so viel Zweitstimmen bekommen wie gut 3 Monate vorher bei der Landtagswahl. Und ich vermute, wir sind uns einig: das lag im wesentlichen an Olaf Scholz - und der ist wirklich kein charismatischer Redner.

Ja, alle paar Jahrzehnte muss jede Generation halt mal wieder aufs Neue die Erfahrung mit Populisten und narzisstischen Scharfmachern machen - um dann wieder daraus zu lernen. Ich halte es für nicht untypisch, dass die Cinque Stelle bei den Kommunalwahlen in Italien alle wichtigen Bürgermeister-Posten verloren haben. Die Leute haben halt die Realität nach den großen Worten erlebt. So bin ich auch bzgl. Österreich optimistisch, dass sich nach Ibiza-Affäre und jetzt Kurz-Affäre etwas verändert. Nach Haider war die FPÖ nur noch halb so stark - und jetzt ist sie eigentlich keine ernstzunehmende (große) politische Kraft mehr.

Um zum Anfang zurückzukommen: mir macht mehr die große Relevanz vieler politischer Entscheidungen Sorgen - nicht die fehlende Qualität der politischen Systeme. Ich glaube, weltweit gesehen geht es heute nicht weniger demokratisch zu als vor 30 oder 50 Jahren. Aber die Entscheidungen, die zu treffen sind, haben oft viel grundsätzlichere Bedeutung. Ursachen hierfür sind: Größe der Weltbevölkerung, Klimawandel, Artensterben, Wasserknappheit, durch all dies verursachte Migration, militärische Möglichkeiten, ...
Das ist eine z.T. sich selbst verstärkende hochbrisante Mischung geworden, die mir Angst macht. Da können wir uns (welt)politisch viel weniger Fehler und Irrwege erlauben als früher.

Michael


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