"Moderne" Psychosomatik - was sie will, was sie kann (Allgemeines)
Die Stiftung Lebensnerv hat ein neues Heft herausgebracht:
"FORUM PSYCHOSOMATIK
Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung"
Quelle
http://www.lebensnerv.de/images/PDF/FP_innen_1-2023_innen-fin-1_bf.pdf
Und wieder einmal zeigt sich hier, daß auch die sich modern verstehende Psychosomatik ihre Tücken hat - mangelnde kritische Reflexion.
Ich lese da Folgendes zum Thema "Placebo" (S. 11.)
"Wer also ein Medikament in der Annahme schluckt, dass es ohnehin nicht wirken wird und sich dabei noch um mögliche Nebenwirkungen sorgt, verzichtet freiwillig auf wichtiges Potenzial für die Genesung."
Ein erbärmlicher Satz, wie ich finde, der einmal mehr den Kern unkritischer Psychosomatik freilegt. Auch der "moderneren" Formen, die auch in einem anderen Artikel im Heft zum Vorschein kommen - dazu gleich.
Was ist hier erbärmlich? =>
Einiges - Zunächst mal die Aussage, oder Behauptung, wir könnten frei über unsere Annahmen und Erwartungen zu einem Medikament entscheiden; als sei das ein Willensakt, so als würde ich nur einen Schalter umlegen müssen. Unsere Annahmen, Erwartungen und Hoffnungen und Befürchtungen sind aber tief verwoben in unserer persönlichen Lebensgeschichte mit all ihren Erfahrungen.
Die lassen sich nicht einfach aus- oder umschalten. Auch nicht über Psychotherapie oder Meditationspraxis. Daß es einen (nicht leicht) veränderbaren Spielraum gibt, will ich nicht bestreiten.
Zweitens: Wird mir hier empfohlen, mich gar nicht um mögliche Nebenwirkungen zu kümmern? Das kann verhängnisvolle Folgen nach sich ziehen.
Drittens: und das ist mir wichtig! Wieder einmal wird mir als Patienten letztlich die Verantwortung dafür zugschoben, ob ich "gesund werden will", oder wie es hier heißt, ob ich "auf wichtiges Potenzial für die Genesung" verzichten will - als ob ich das vollständig selbst in der Hand hätte. Das ist Schwarze Psychosomatik-Sprech.
Der vorangehende Artikel will ein Bild der gegenwärtigen Psychosomatik zeichnen.
"Wenn Leib mit Seel … ein (Miss-)Verständnis der Psychosomatischen Medizin" (S. 2)
Darin werden ganz offensichtlich Fortschritte des Denkens in der Psychosomatik beschrieben:
"Es steckt darin auch die Abwehr einer Vergangenheit, eines bis vor etwa 60 Jahren von der Psychosomatik tatsächlich häufig vertretenen, letztlich unhaltbaren Anspruchs: dass komplexe Krankheitsbilder mit schweren Körperbeschwerden rein psychischer Ursache sein können. Dieser spiegelbildliche Psycho-Bias ließ sich empirisch nie beweisen;"
Eine bedeutsame Einsicht!
Was erfahren wir nun über die heutige Psychosomatik?
Also weiter:
"Wie sieht also heutige Psychosomatische Medizin aus, die sich auf ein integrierteres bio-psycho-soziales Modell stützt?
Sie geht davon aus, dass das für das Kranksein zentrale Erleben belastender Körperbeschwerden immer und von Anfang an eine untrennbare Mischung darstellt, mit wechselnd starker Ausprägung seiner Anteile.
Es ist ein Resultat einerseits von biologischen Faktoren, (...) und andererseits der Prägung durch Vorerfahrungen, Erwartungen und Kontexte, was den Umgang mit dem Körper angeht. Die letzteren erzeugen Erwartungs- und Kontexteffekte, die, isoliert betrachtet, auch als positiv wirkende Placebo- und schädlich wirkende Nocebo-Phänomene beschrieben werden."
Hat Boggy hier nun irgendetwas zu meckern? Nein. Soweit erstmal nicht. Wenn wir die zutreffende und wichtige Aussage "mit wechselnd starker Ausprägung seiner Anteile" wirklich ernstnehmen, und eigentlich nicht "wir", sondern die Ärzte und Psychotherapeuten. Wie groß ist denn jeweils welcher Anteil konkret, und was ist da überprüfbar evidenzbasiert, also belegbar.
Aber der Knackpunkt, oder die mangelhaft kritisch reflektierte Tücke bleibt (und wird zumindest in dem Artikel nicht weiter präzisiert):
Was tun? Welche Mittel hat der psychosomatische Mediziner? Wo setzt er an?
Zitat:
"Therapeutisch geht es ja grundsätzlich darum, das belastende subjektive Erleben (...) und die damit einhergehende Funktionsbeeinträchtigung positiv zu beeinflussen. Wenn dazu künftig immunmodulierende Medikamente beitragen, ist das genauso gut als wenn das durch die psychotherapeutische Modifikation von Erwartungen und Gefühlen gelingt."
Und damit bin ich bei MEINEM Kernthema: Die Grenzen möglicher Einflußnahme müssen deutlich benannt werden. Es darf kein Hintertürchen offen bleiben, durch das dem Patienten wieder die persönliche Verantwortung für ein Mißlingen der Behandlung zugeschustert wird.
Die genannte "psychotherapeutische Modifikation von Erwartungen und Gefühlen" hat - zum Teil - enge Grenzen! Das liegt in der Natur der Sache => Mensch. Diese Grenzen müssen ausdrücklich benannt und miteinbezogen werden.
Damit will ich tatsächliche, hlifreiche Möglichkeiten nicht kleinreden. Aber um die kümmern sich ja genügend andere.
Gruß
Boggy
(Bitte tag setzen: Psychosomatik )
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Um unserer persönlichen und gesellschaftlichen Freiheit willen müssen wir immer wieder die Saat des kritischen Verstandes und des begründeten Zweifels säen.