Wadenbeißen? (Therapien)

W.W. @, Sonntag, 06.02.2022, 14:36 (vor 781 Tagen) @ W.W.

(Fortsetzung) Trotz der wenig beeindruckenden Wirksamkeit, den erheblichen Nebenwirkungen und der unbekannten Langzeitrisiken gehört es zu den Marketingaktivitäten der Pharmaindustrie, die Chancen des unbehandelten MS-Betroffenen in düsterstem Grau zu malen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier ein Geschäft mit der Angst gemacht werden soll. Die epidemiologischen Zahlen, auf die sie sich beziehen, sind hoffnungslos überholt, vor allem, weil heutzutage durch die Verfeinerung der Diagnostik immer häufiger leichte und leichteste Verlaufsformen diagnostiziert werden, die sich früher jedem Nachweis entzogen hätten. Eine neue prospektive und sehr sorgfältig durchgeführte Studie, die 2004 im Lancet erschien, zeigt, dass 162 MS-Patienten, die nach 10 Jahren bis auf einen einzigen Patienten nachuntersucht werden konnten, entweder stabil geblieben waren oder nur eine minimale Progression zeigten. Die durchschnittliche Verschlechterung des Behinderungsgrades betrug nur 1.0 Punkte auf der zehnstufigen Kurtzke-Skala.

Da mehr als 90% der Mitglieder der MSTKG finanzielle Beziehungen zu mehr als zwei Herstellerfirmen von MS-Medikamenten unterhalten, ergibt sich ein besorgniserregendes Szenario: Die Medikamentenstudien werden von den Herstellern finanziert, geplant und ausgewertet. Die MS-Experten von der MSTKG, von denen wir erwarten, dass sie diese Studien kritisch bewerten, haben die Studien entweder selbst geleitet oder unterhalten finanzielle Beziehungen zu den Firmen, deren Medikamente sie empfehlen. Außerdem halten sie im Auftrag derselben Firmen hochdotierte Vorträge vor MS-Selbsthilfegruppen oder auf neurologischen Dort rühmen sie die beeindruckenden Studienergebnisse; beschwören wie ein Menetekel die katastrophale Prognose der MS, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt wird; beklagen, wie unverantwortlich es von Neurologen sei, diese Medikamente nicht häufiger zu verordnen; weisen darauf hin, wie gefährlich es ist, Betainterferone probehalber wieder abzusetzen; setzen sich für den Einsatz von „MS-Krankenschwestern“ ein, die von den Betainterferon-Herstellern ausgebildet werden, um spritzenmüde Patienten zum Weitermachen zu motivieren; stellen für die Firma Serono (Rebif®) statistisch unhaltbare Verlaufsbeobachtungen über 8 Jahre vor, welche die Langzeitwirkung der Betainterferone belegen sollen; und berechnen für Schering (Betaferon®), dass die ganze Therapie, obwohl sie auf den ersten Blick unvertretbar teuer erscheine, in Wirklichkeit auf lange Sicht Kosten einspare. Wenn sich schließlich aber herausstellt, dass dennoch viele Neurologen nicht ganz überzeugt sind, wird eine Zertifizierung eingeführt und die Neurologen und Neurologinnen, die sich freiwillig auf die möglichst breite und frühzeitige Verordnung verpflichten, werden mit einem Prädikat der MSTKG bzw. der DMSG ausgezeichnet. Dieses Gebaren des ärztlichen Beirates wird von vielen Kollegen als Zumutung empfunden und der DMSG vorgeworfen, ihre Interessen gegenüber der Pharmaindustrie nicht klar genug von den Interessen ihrer Mitglieder zu trennen.

Dieses Gebaren des ärztlichen Beirates in der Öffentlichkeit wird von vielen Kollegen als Zumutung empfunden und der DMSG vorgeworfen, ihre Interessen gegenüber der Pharmaindustrie nicht klar genug von den Interessen ihrer Mitglieder zu trennen.
Hierbei handelt es sich eine unheilvolle Entwicklung. Gerade die MS, die individuellste aller Krankheiten, kann nicht nach einem starren Schema behandelt werden. Die Indikation zu einer Betainterferon-Therapie ist möglichst eng und möglichst individuell zu stellen. Hier ist kein von der DMSG zertifizierter, sondern ein unabhängiger MS-Spezialist gefragt, der sich nur vor sich selbst und keiner anderen Institution rechtfertigen muss, welche Medikamente er verordnet, und sich seine Entscheidung schwer macht, bevor er einem jungen Menschen empfiehlt, sich jahrelang selbst zu spritzen und die unangenehmen Nebenwirkungen zu ertragen. Vor allem aber braucht der Betroffene die Gewissheit, dass merkantile Aspekte für die Entscheidung unbedeutend sind.

W.W.


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